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“Standards müssen sich nach den Menschen richten”

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Rede von Juergen Boos zur Eröffnungspresskonferenz

Boos, Juergen 2010Wenn ich den Begriff „lesen“ in den Raum werfe, werden wir alle vermutlich ein ähnliches Bild vor Augen haben – nämlich: jemand sitzt versunken in ein Buch und schweigt.  Das ist der traditionelle Standard des Lesens. Aber ich kann Ihnen versichern: in fünf Jahren wird sich dieses Bild erheblich vom heutigen Lese-Standard unterscheiden.  Das lässt sich vergleichen mit dem Telefonieren als Kulturtechnik: Mit dem Handy zogen neue Umgangsformen in die öffentliche Kommunikation ein, die neue Technologie nahm einen kräftigen Einfluss auf die Soziologie der Verabredung.

(Unsere Verbindlichkeit im menschlichen Miteinander hat stark abgenommen, lässt sich doch eine Verabredung noch Minuten vorher per SMS verschieben. Wie wir das finden, steht auf einem anderen Blatt.)

Über die Funktion des eigentlichen Telefonats hat sich inzwischen längst eine neue gelegt: nämlich die der lückenlosen persönlichen Navigation durch Zeit und Raum. Für nahezu jede Lebenssituation gibt es eine passende App. Ach ja: Und manchmal telefonieren wir noch mit dem Gerät.

Beim „Lesen“ sind wir im Begriff, einen ähnlichen Wandel hin zu neuen Standards zu erleben. Lesen fächert sich auf. Es wird ganz neue Formen des Lesens – der Inhalteaufnahme – geben

1. Vor allem bei  Fachinformationen wird Lesen zu einer neuen Form der „Inhalte-Aufnahme“: Texte werden sehr viel kürzer, Informationen vielfältiger aufbereitet – als Text, als Grafik, unterlegt durch akustische Signale, virtuelle Themenwelten.

Sie werden gleich Steve Smith von Wiley hören, ein Unternehmen, das sich selbst derzeit komplett häutet und vom Verlag für Fachinformationen zu einem integrierten Komplett-Anbieter von Wissens-Dienstleistungen wandelt.

Oder: Wenn Sie sich in unserem Klassenzimmer der Zukunft in Halle 4.2 umsehen, stellen Sie fest, dass die Kinder bald nicht mehr stundenlang auf ihrem Hosenboden sitzen, in Bücher starren und ihre Hefte vollschreiben müssen. Stattdessen tauchen sie ein in Themenwelten und erleben „sinnlich“ wie Mathe, Chemie und Physik, wie der Ozean, das Innenohr, eine Raumstation und das Klima der Erde funktionieren. Ein echter Gewinn für die Kinder und auch den Wissenserwerb.

2. Daneben wird es weiterhin das literarische Lesen geben, wie wir es heute kennen. Und ich glaube und hoffe, dass wir auch hier eine Renaissance erleben werden. Wer den ganzen Tag in virtuellen Welten unterwegs war, wird bewusster als früher den kraftvollen Fluss eines linearen Textes genießen. Mehr und mehr werden wir lernen, zwischen den multimedialen Informationswelten fachlicher Wissensvermittlung und den eigenen Bilderwelten zu unterscheiden, die bei der Lektüre einer guten Geschichte im Kopf entstehen.

3. Und nicht zuletzt wird Lesen „social“, wird Teil eines Gesprächs, wird in das ganz normale Leben integriert.  Es entstehen viele persönliche Formen des Lesens, vielleicht genauso viele wie es Formen von Gesprächen gibt: still und konzentriert oder laut und voller Lebensfreude. Je nach Anlass und Lebenssituation diversifiziert sich das Lesen – und damit auch die Gespräche über das Gelesene.

Doch die neue Vielfalt des Lesens fällt nicht vom Himmel. Vielmehr ist sie Ergebnis eines Publishing-Markts, der mehr mehr Möglichkeiten bietet als je zuvor.

Neue Risiken – Das Ringen um Standards und Zugänge

Wo neue Kulturtechniken entstehen, entstehen oft auch neue Machtstrukturen. Solche Verschiebungen im Markt können wir als Buchmesse konstatieren und deuten – beeinflussen können wir sie kaum, und wir wollen es auch nicht.

So haben es Verlage heute mit einer gänzlich anderen Marktmacht auf der Seite einiger großer Buchhändler zu tun. Digitale Riesen – ja, ich spreche hier von Google, Apple und Amazon – sind gerade im Begriff, die Publishing-Märkte unter sich aufzuteilen.  Fast ein Drittel des Umsatzes mit Büchern (31 % laut Bowker, damit sind print und ebooks gemeint) in den USA ging letztes Jahr auf das Konto von  Amazon.

Die US-amerikanischen Technologieriesen sind „Kundenbindungsmaschinen“, die die gesamte vertikale Wertschöpfungskette beherrschen – E-commerce und Endgeräte mit eingeschlossen. Wir haben es mit steueroptimierten, globalen Logistik-Zauberern zu tun, die dabei sind, nach und nach leidenschaftslos die Rolle des intellektuellen – und fast immer auch gesellschaftspolitisch positionierten – Verlegers zu verdrängen. Verleger – und das schließt auch Self-Publisher mit ein – akzeptieren die Konditionen der „Großen 3“, denn es gibt keinen Verhandlungsspielraum. Der Einfluss, den diese Unternehmen derzeit gewinnen, droht die Vielfalt einzuschränken, die den Publishing-Sektor seit jeher ausgezeichnet hat.

Es geht um die Frage, welche technologischen Standards das Lesen prägen werden – und damit auch um den Zugang zu geistigen Gütern.  Diese Frage hat eine umfassende kulturelle, ja gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Die Feststellung von Marshall McLuhan „The medium is the message“ gewinnt im neuen Publishing eine neue Wichtigkeit!

Sie alle kennen das Programm Powerpoint. An sich ein tolles Instrument für Präsentationen. Kritiker führen jedoch an, dass sich mit diesem Programm das Denken vieler Menschen verändert hat – denn jeder Gedanke, der zu komplex ist um auf ein Chart zu passen, droht verloren zu gehen. Oft wird in diesem Kontext eine Analyse des US-amerikanische Informatikers Edward Tufte zitiert, der die Rolle von Powerpoint als ein mögliches Element beim Absturz der Raumfähre Columbia untersucht hat – möglicherweise hat die die Software dazu beigetragen, die Komplexität bestimmter technischer Probleme übervereinfacht darzustellen.

Technologische Standards prägen die Art, mit der wir unsWissen aneignen, Literatur produzieren und insgesamt denken.  Um welche Standards wird im Publishing derzeit am heftigsten gerungen.

Zum einen ist da der Aspekt der Realisierung, also der Zugang zu Finanzierung und Produktion. Jeder Autor, dessen Manuskript einmal abgelehnt wurde weiß wovon ich spreche, aber jeder Verleger weiß auch, was diese Frage mit „Standards“ zu tun hat.

Dann gibt es den Standard des Suchens und Findens. Je mehr Inhalt es gibt, desto entscheidender wird er.  Zwar bietet das Web bietet eine Fülle an Inhalten, aber nicht unbedingt eine Fülle an Orientierung.  Und: Viele Menschen glauben, was in den großen Kanälen nicht vorkommt, gibt es nicht: Hier kann eine Zensurmacht entstehen, die eigenständig entscheidet, was schicklich ist und was nicht. Zu viel Sex im Buch? Vorsicht, gegebenenfalls fliegt es aus dem Shop – und damit aus dem Zugriff des Lesers.

Es gibt Standards, die mit technischen Systemen zu tun haben –  die Großen 3 sind Meister darin, goldene Käfige zu bauen, aus denen ihrer Nutzer nur schwierig wieder herauskommen. Zum Beispiel verschwindet der Zugang zu gekauften e-books bei Amazon in dem Moment, in dem der Nutzer seinen Account auflöst.

Eine weiterer wichtiger Industriestandard ist die Frage der Bezahlung im Internet. Im Buchladen kann ein Kind sich von seinem Taschengeld ein Buch kaufen. Im Internet geht das nicht so einfach ohne Kreditkarte oder Girokonto. Praktische Bezahllösungen fehlen aber auch für Erwachsene. Wer hier als erstes mit einer Lösung aufwartet, die zum Industriestandard wird, hat quasi seine eigene Währung etabliert.

Start-UpKultur für Vielfalt – der Marktplatz für die neuen Standards

Wie geht das internationale Publishing mit dieser Situation um? Auf die Dauer wird die  Vielfalt der Publishing-Branche gerade so robust sein, wie ihre Akteure mit neuen Ideen,Geschäftsmodellen und Angeboten aufwarten, die an Innovationskraft, Komfort und Integrationsvermögen den Großen nicht nachstehen.

Vorwärtsgehen und einfach machen – so stellt sich das Motto einer vitalen Branche dar.

Die Buchmesse zeigt diesen Gründergeist, und sie zeigt auch, wie notwendig Zusammenkünfte wie die Messe sind. Hier treffen sich alle – Techies, Verleger, Buchhändler, Business Developer, Investoren, Agenten, um Ideen, Kooperationen, Netzwerke aufzutanken. Aber auch Standards werden hier ausgehandelt, Best Practice Prozesse etabliert. Beim Rechtehandel, der seit den 70er Jahren boomt, war das so – und auch die neuen Strukturen im Ökosystem des Publishing werden hier auf der Messe mit herausgebildet. Es geht um neue Ideen, neue Stoffe, neue Konfigurationsmöglichkeiten der einzelnen Zutaten – und immer auch um die Frage, ob diese geistigen Güter sich am Markt behaupten können.

In diesem Sinne fordere ich Sie alle auf, an das neue Lesen mitzugestalten – und daran mitzuarbeiten, dass die entstehenden Standards den Ansprüchen an Qualität und Vielfalt genügen.

Sie alle kennen diesen Standard-Algorithmus von Amazon, der einem stets ähnliche Bücher vorschlägt wie die, die man schon gelesen hat. Wie wäre es mal mit dem Gegenteil, einem Algorithmus, der mir stets Unerwartetes und Überraschendes anbietet?  Das Beispiel zeigt, dass die Frage von Standards nicht nur von der Technologie,sondern vor allem auch vom Willen abhängt. Wenn alle – Technologie-Anbieter, Publisher, Politik, Kultur  und Wirtschaft, Leser und Bürger – aufeinander zugehen, dann werden wir neue Konventionen entwickeln, die unseren Ansprüchen an Qualität, Vielfalt undToleranz genügen.

Ich wünsche Ihnen inspirierende und erfolgreiche Messetage!

Vielen Dank.

 


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